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Der Baluardo ist ein Aussichtspunkt hoch über dem Comer See; man überblickt von hier aus genau jenen Punkt, die Südspitze Bellagios, an dem die beiden Arme des Sees zu einem einzigen sich vereinigen. Nur durch einen Zufall hatte Mr. Reginald Simpson den Baluardo vor einigen Monaten entdeckt. Im Dorf, in Varenna, hatte ihn niemand darauf aufmerksam gemacht, war es doch hier unter Fischern, kleinen Handwerkern und Dienstmädchen, durchaus unüblich Spaziergänge zu unternehmen. Weder hatte man die Zeit noch überhaupt den Wunsch, die landschaftlichen Schönheiten seiner unmittelbaren Umgebung zu erkunden und in sich aufzunehmen.
Doch genau dies, Furcht und Andacht nämlich vor einer den Menschen überwältigenden Natur, die verlockende Vorstellung eines regelrechten Sich-Verlierens in ihr, war der tiefere Grund dafür gewesen, dass Mr. Simpson, ein mächtiger Mann von Ende fünfzig, schlohweiß und unglücklicherweise schon seit frühester Jugend entschieden zur Kurzatmigkeit neigend, sich nach Varenna zurück gezogen hatte.
Eine seltsame Unruhe, die er sich als Mann von überlegener Verstandeskraft nicht recht zu erklären vermochte, hatte ihn erfasst, seit er eines Tages zufällig in alten Reiseberichten von dem kleinen Ort gelesen hatte. Ein gewisser Sir William Blackworth, pensionierter Flottenadmiral und leidenschaftlicher Botaniker, berichtete darin von seltsamen Pflanzenvorkommen und Ausblicken am Comer See, die er im konventionell-unterkühlten Stil seiner Zeit als lovely, in Ausnahmefällen als more than lovely beschrieb. Zwar hatte Simpson das durchaus gegen seinen eigentlichen Willen in ihm aufkeimende Gefühl einer unbestimmten Sehnsucht über Monate hinweg hartnäckig zu bekämpfen versucht, doch nur um ihm schließlich zu seiner eigenen Verwunderung kampflos zu unterliegen. Ende neuzehnhunderteinunddreissig hatte er sich gänzlich unerwartet, aus dem aktiven Geschäftsleben zurück gezogen, Frau und Kinder besaß er nicht, seine Eltern waren längst gestorben, und so hatte schließlich ein höchst vorteilhaftes Angebot zum Verlauf seines florierenden Importgeschäftes für Südfrüchte den Ausschlag gegeben. Reginald Simpson war, als er sich im Spätsommer neuzehnhundertzweiunddreissig in Varenna niederließ, ein wohlhabender und gänzlich unabhängiger Mann. Er war niemandem auf der Welt mehr Rechenschaft schuldig, keinerlei Verpflichtung schränkte seine persönliche Freiheit länger ein; die Entscheidung darüber, auf welche Weise er die ihm verbleibende Zeit nutzen wolle, lag ganz und gar in seinem eigenen Ermessen.
Nun ist es aber für einen Menschen, der sein ganzes Leben lang hart gearbeitet hatte und persönlichen Belangen, Gefühlen, Empfindungen und vagen Vorahnungen niemals auch nur den geringsten Stellenwert zugemessen hatte, nicht eben leicht die Frage zu beantworten, was er denn nun eigentlich wolle. Kurz, Simpson wusste es, ohne sich seine Verwirrung freilich einzugestehen, lange Zeit selber nicht. Er wusste es solange nicht, bis ihm an einem regnerischen Sonntagnachmittag durch einen puren Zufall wieder jener Reisebericht Blackworth’ in die Hände gefallen war, der, wie er sich sogleich erinnerte, der Ausgangspunkt seiner plötzlichen Unruhe gewesen war. Zwar wehrte sich alles in ihm dagegen, an eine Art Schicksalhaftigkeit zu glauben, doch tatsächlich waren in diesem Moment die Würfel gefallen. Es gab nun kein Zurück mehr. Simpson spürte es ganz deutlich, und wenngleich ihm die rätselhafte Gewissheit seines nunmehr unwiderruflichen Entschlusses England zu verlassen zutiefst unheimlich war, überkam ihn andererseits fast ein Gefühl der Erleichterung.
Zwar hatte die Klärung seiner Interessen sich nicht auf jene umsichtig-vorausschauende Weise vollzogen, mit der er ein Leben lang höchst erfolgreich seinen Geschäften nachgegangen war, doch immerhin wusste er nun, auch wenn er es nicht hinreichend hätte begründen können, was er zu tun haben würde. Bereits am nächsten Tage begann er mit seinen Vorbereitungen. Dabei entfaltete sich noch einmal die ganze Fülle seines angeborenen Organisationstalents, ja es war, so könnte man sagen, die Summe seiner gesammelten Lebens - und Geschäftserfahrung, die ihn die Dispositionen für jenen Aufbruch ins Ungewisse treffen ließ, den er zugleich fürchtete und dem er heimlich entgegen fieberte wie einer fernen Geliebten. Im Mai neuzehnhundertzweiunddreissig war es schließlich so weit; er schiffte sich nach Genua ein. Den Sommer würde er im Hotel des Anglais in Bellagio verbringen, alles Weitere würde sich finden.
Nun war Reginald Simpson, durchaus ungewöhnlich für einen Engländer seines Standes und seines Berufes, niemals zuvor im Ausland gewesen. Stets hatte er die Unannehmlichkeiten des Reisens gescheut und hatte statt dessen, so, wie es in seiner Familie seit je üblich gewesen war, den Sommer auf dem Lande verbracht. Zwar kannte er sich als Geschäftsmann mit Südfrüchten bestens aus, doch hatte er niemals die Bäume gesehen, auf denen sie wuchsen. Seine Kenntnisse der mediterranen Flora waren rein theoretischer Natur. Selbstverständlich wusste er um die südliche Sonne, welche die Früchte reifen und zu einer lukrativen Handelsware werden ließ, doch hatte er sie niemals auf der eigenen Haut gespürt, und so war seine Ankunft im frühsommerlichen Genua ein geradezu schockhaftes Erlebnis, das seine Gedanken, oder besser: seine Phantasie den ganzen Sommer lang beflügeln würde. Sowohl in Nervi - die ersten Tage nach seiner Ankunft hatte er am ligurischen Meer verbracht – als auch in Bellagio, wo er sich nach einer umständlichen Fahrt schließlich in zwei ebenso eleganten wie geräumigen Zimmern für den Sommer eingerichtet hatte, zog es ihn vom ersten Tage an unwiderstehlich hinaus in die Natur. Und während seine Landsleute die frühen Stunden des Nachmittags zumeist im abgedunkelten Salon beim Bridgespiel verbrachten, verabschiedete er sich nach dem Mittagessen gewöhnlich rasch, um auf eigene Faust einen ausgedehnten Spaziergang in den Wäldern oberhalb von Bellagio zu unternehmen oder etwa eine Schiffspartie nach Menaggio. Bisweilen ließ er sich mit einem jener Fischerboote, die zu jeder Tages - und Nachtzeit die Zimmermädchen, Serviererinnen und Küchenhilfen aus ihren kleinen Dörfern in die Grandhotels von Bellagio transportierten, nach Varenna mitnehmen. Ausgerüstet mit seiner erklärten Lieblingslektüre, dem Reisebericht Blachworth’, begab er sich dann geradewegs auf dessen Spuren, setzte sich irgendwo hoch über dem See auf sein ausgebreitetes Taschentuch ins Grass und verglich das Beschriebene mit dem, was seine eigenen Augen erblickten. Dabei erregte der trockene Tonfall, die ewig gleichen Adjektivreihungen und das stereotype more than lovely, mit dem der alte Herr noch jeden Ausblick dem vorherigen gleich machte, zunehmend sein Missfallen, und es war ihm schleierhaft, weshalb ihn ausgerechnet diese Lektüre einst so sehr fasziniert hatte. Andererseits hätte freilich auch er selbst kaum in Worte zu fassen vermögen, was sich seinem Auge bei klarer Sicht hoch über dem See darbot, und in jenen Augenblicken größter Verwirrung, in denen er zu seinem eigenen Erstaunen mit einem Mal spürte, wie die Grenzen seines ihm bekannten Ichs sich erweiterten und seltsam durchlässig wurden, war er dem respektierlichen Flottenadmiral fast schon wieder dankbar für die heilige Nüchternheit seines Stils, und es überkam ihn Scham über sich selbst. Ja, Mr. Reginal Simpson schämte sich neuerdings manchmal vor sich selbst, oder schlimmer noch: er kannte sich mit einem Male nicht mehr. Schon nach wenigen Wochen des Aufenthaltes in Bellagio war ihm, er wagte kaum, es sich regelrecht einzugestehen, seine Vergangenheit so fern gerückt, als sei sie die eines Wildfremden. Fragen von Seiten der Hotelgäste nach seinem bisherigen Leben beantwortete er mechanisch, Briefe aus der alten Heimat selten oder gar nicht. Dafür bemühte er sich mit einem Eifer, der leider in einem durchaus unglücklichen Verhältnis zu seinen angeborenen Fähigkeiten stand, um das Erlernen der italienischen Sprache. Im Hotel des Anglais galt er bald als Außenseiter und Sonderling. Man verstand sein Verhalten nicht, da er jedoch nichts tat, was einen - freilich durchaus willkommenen – Anlass zu ein wenig Klatsch hätte bieten können, verlor man rasch das Interesse an dem seltsamen Gast und belästigte ihn nach Landessitte nicht länger.
So verging der Sommer ohne dass Simpson, der stets ein Mann gewesen war, dem Pünktlichkeit und Pflichterfüllung über alles gegangen waren, seines Verlaufs eigentlich recht inne wurde, und eines Morgens nahm er zu seiner größten Verwunderung wahr, dass zahlreiche Koffer in der Eingangshalle auf allgemeinen Aufbruch hindeuteten. Der Speisesaal lehrte sich im Verlaufe der letzten Augustwoche merklich, und da erst erinnerte er sich plötzlich, dass es doch ursprünglich sein Vorhaben gewesen war, vor dem Herbst noch überzusiedeln nach Varenna. Da er jedoch bisher nicht die geringste Anstrengung unternommen hatte, seinen Plan in die Tat umzusetzen, war er fast schon bereit ihn aufzugeben oder zumindest zu vertagen, als ein glücklicher Zufall ihm zur Hilfe kam. Ein Herr seines Alters, Engländer wie er und seit einigen Jahren bereits in Varenna ansässig, der eines Sonntags zum Mittagessen in das Hotel gekommen und mit dem er, entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten ins Gespräch gekommen war, hatte ihm von einer kleinen Villa am See erzählt, die neuerdings wieder zu vermieten sei. Ein englisches Ehepaar habe dort bis vor kurzer Zeit gelebt und der Vermieter, ein namhafter Seidenfabrikant aus Como, ein weltläufiger Mensch, der sehr zufrieden mit seinen Mietern gewesen war, würde sie gerne wieder an einen Engländer von Stand und entsprechenden Mitteln vermieten. Der Preis sei moderat, auch Dienstpersonal stünde bereits zur Verfügung. Simpson wurde hellhörig. Man verabredete sich für die nächste Woche zur Besichtigung und in dem Moment, in dem er der Villa zum ersten Male ansichtig wurde, nahmen alle seine ungeträumten Träume mit einem Male Gestalt an. Noch am selben Tage wurde man sich einig und gegen Ende der zweiten Septemberwoche übersiedelte er, nachdem Heerscharen von Handwerkern und Dienstmädchen die Villa Camilla innerhalb von kürzester Zeit aufs Vornehmste herausgeputzt hatten, nach Varenna. Es lag nun an ihm, so fühlte er auf unbestimmte Weise, einen Traum bewohnbar zu machen.
Die erste Nacht in seinem neuen Domizil verbrachte er schlaflos. Durch und durch chaotische Gedanken und Empfindungen, schrille, sein Taktgefühl und seine lebenslang eingeübte Diskretion tief beleidigende Bilder, plötzliche unerfindliche Eingebungen und vage, allerdings höchst beängstigende Ahnungen bevölkerten seine Schlaflosigkeit in den allergrellsten Farben. Von überall her pfiff, stampfte und donnerte es. Unbekannte, aufgeregte Stimmen gellten ihm in den Ohren, und wie so oft in den letzten Monaten schon überkam Reginald Simpson, der sich im Laufe seines fast sechzigjährigen Lebens stets eines tiefen, traumlosen Schlafes erfreut hatte, eine grenzenlose Scham über sich selbst. Doch während er noch hilflos zuschauen musste, wie sein bislang unangefochtenes Ich mit einem Male zum Opfer ausufernder Phantasmagorien wurde, war er zugleich fasziniert, und es war diese sonderbare Gleichzeitigkeit einander doch eigentlich ausschließender Wahrnehmungen, die ihn, zumindest wollte ihm dies in den frühen Morgenstunden so erscheinen, fast um den Verstand zu bringen drohte. Um sechs Uhr schließlich hielt er es nicht länger im Bett aus. Er stand auf und ging, bekleidet nur mit einem langen burgunderfarbenen Hausrock, hinaus in den Garten. Auf einer zierlichen, schmiedeeisernen Bank, die direkt an der Mauer zum Wasser aufgestellt war, setzte er sich und versuchte seine Gedanken so gut es ging zu ordnen. Die kühle Luft tat ihm gut und während sein Blick über den See glitt, der an diesem Morgen wie neugeboren vor ihm lag, fühlte er, wie die Gespenster der Nacht eines nach dem anderen von ihm wichen, und plötzlich konnte er sich wieder als das sehen, was er vor den Augen der Welt zweifellos darstellte: ein erfolgreicher Geschäftsmann im wohlverdienten Ruhestand. Einer, der sich freiwillig aus dem aktiven Leben zurückgezogen hatte, um sich fortan allein seinen Passionen zu widmen. Einer, der es sich leisten konnte, ein unauffälliger Mensch, der niemals einem anderen zu nahe getreten war. Eine freudige Zuversicht erfasste ihn, während er sich zwang, auf die allerharmloseste Art an sich selbst zu denken. Gegen sieben Uhr ungefähr hatte er sich so weit wieder her hergestellt, dass er in seinem durchaus unbeholfenen Italienisch bei der Köchin ein opulentes Frühstück nach englischer Art bestellen konnte.
Es geschah in einer der darauf folgenden Wochen, dass er bei einem seiner langen Spaziergänge in den Wäldern zufällig den Baluardo entdeckte, und da niemand ihn auf diesen Aussichtspunkt aufmerksam gemacht hatte, traf ihn die Schönheit des besonderen Ausblicks mit unverminderter Wucht. Vergeblich hatte er sich in den vergangenen Wochen um das Aufspüren verborgener Passionen in seinem Innern bemüht, doch weder die Vorstellung, sich womöglich mit einem Schmetterlingsnetz ausgerüstet in die Natur zu begeben, noch etwa mit einer Botanisiertrommel oder einem Aquarellkasten gar, hatte ihn am Ende überzeugen können. Derartige Zeitvertreibe waren ebenso wenig etwas für ihn wie das allnachmittägliche Bridgespiel im Hotel des Anglais, wollte er, Reginald Simpson, dies wurde ihm allerdings erst nach und nach deutlich, doch nichts weniger als sich die Zeit vertreiben. Und während er also im milden Licht eines späten Septembernachmittages zusah, wie die beiden Arme des Sees in niemals abreißender innerer Bewegung sich zu einem einzigen vereinigten, da wusste er plötzlich den tieferen Grund seines Hierseins. Er erkannte, dass er nach Varenna gekommen war, um die Zeit anzuhalten. I have to stop the running of time, sagte er leise zu sich selbst, the running of time –
Es verging nun kein Tag mehr, an dem er nicht, zumeist am Nachmittag, zum Baluardo hinaufstieg und dort lange verweilte. In Lecco hatte er sich ein Fernglas, ein Wunderwerk optischer Feinmechanik gekauft, mit Hilfe dessen er seine Umgebung, umständlich, wie es seit je seine Art gewesen war, zu erkunden begann. Nichts blieb ihm dabei verborgen, und so wurde die fremde Landschaft im Verlaufe des Herbstes neuzehnhundertzweiunddreissig zum Fluchtpunkt aller seiner Gefühle und Empfindungen. Sonderbarer Empfindungen, zugegebenermaßen, ungewöhnlicher und sogar höchst befremdlicher Empfindungen, die ihn jedoch längst nicht mehr so beunruhigten wie noch zu Beginn seines Aufenthalts. England war weit, und dass er einst, zumal höchst erfolgreich, mit Südfrüchten gehandelt haben sollte, wollte ihm schon bald wie eine Mär erscheinen. Dann wieder rief er sich jedoch ins Gedächtnis zurück, dass sein gegenwärtiger Zustand ohne den ihm vorangegangenen ganz und gar undenkbar gewesen wäre, und so fand er zuweilen, wenn sein Blick hinter dem Fernglas an den Wipfeln der Zypressen hängen blieb, welche den Park der Villa monastero nach Norden hin begrenzten, seinen finsteren Frieden.
Bei Winterbruch wurden seine täglichen Wanderungen erst kürzer, dann fielen sie ganz aus, und Simpson blieb zu Hause. Er verbrachte die Nachmittage nun zumeist in seinem so genannten Arbeitszimmer. Dort saß er, sein italienisches Lehrbuch auf den Knien, in eine karierte Decke gehüllt am Fenster und tat, was er sein ganzes Leben lang sorgsam vermieden hatte: er dachte nach. über sich selbst und wie alles gekommen war. Kleine Episoden, unbedeutende Begebenheiten aus seiner Kindheit, die er längst vergessen zu haben glaubte, fielen ihm wieder ein; seine Erinnerung hatte sie ohne sein Wissen für ihn aufgehoben, als habe sie gewusst, dass es einmal auch solche Nachmittage geben würde.
Gegen fünf ließ er sich den Tee servieren, bisweilen besuchte ihn jener Herr, der ihm die Villa Camilla vermittelt hatte, man sprach über Belangloses und sah dabei aus dem Fenster auf den See. Der Blick war, und hingen die Wolken auch noch so niedrig, stets lovely und sonderbarerweise war es gerade in jener so durch und durch konventionellen Floskel, in der die beiden Herren für den Bruchteil einer Sekunde ihrer eigenen Melancholie inne wurden - und der ihres Gegenüber. Wenngleich Reginald Simpson, so auf jeden Fall versuchte er es sich einzureden, auf die Besuche seines zufälligen Bekannten gut und gerne hätte verzichten können, war ihm dessen Gesellschaft andererseits wenigstens nicht eigentlich unangenehm.
So ging der Winter dahin.
Im nächsten Frühjahr nahm er die Gewohnheiten des vergangenen Sommers von einem Tag auf den anderen wieder auf; es verging nun kaum mehr ein Nachmittag, an dem er nicht wie unter einem inneren Zwang zum Baluardo hinauf stieg und lange dort verweilte. Zudem hatte ihn in jenen Wochen ein ornithologisches Interesse gepackt. Mit Hilfe seines Fernglases versuchte er, die Vögel an ihrem Fluggebaren voneinander zu unterscheiden und ihre Gewohnheiten zu erkunden. Ein reich illustriertes Manual, das er während der langen Wintermonate studiert hatte, half ihm dabei, und es war in diesen Wochen geradezu so, als habe er endlich eine regelrechte Passion in sich entdeckt. Da geschah es eines Nachmittags, dass er, währender durch das Fernglas geduldig dem Flug eines Mäusebussards folgte, auf einer winzigen Lichtung unterhalb des schmalen Pfades zwei Menschen beobachtete, einen Mann und eine Frau, die sich offenbar hier ein Stelldichein gaben. Und wenngleich ihm sein anerzogenes Taktgefühl in einem solchen Falle unbedingte Zurückhaltung gebot, brachte er es nicht über sich, seinen Blick abzuwenden. Im Gegenteil fokussiere er das Objektiv, er stellte es scharf und schärfer, bis er die beiden Körper so deutlich im Visier hatte, dass keine ihrer erregten Bewegungen ihm mehr verborgen bleiben konnte. So verharrte er reglos, und es war an diesem Nachmittag, dass sein Interesse an der Vogelkunde ebenso rasch wie es aufgekeimt war, wieder erstarb. Auch die Ornithologie, begriff er schlagartig, war, wie alle vermeintlichen Leidenschaften am Ende nichts als ein billiger Vorwand. I’m a man without passions,The man without passions .
Die beiden darauf folgenden Tage vergingen ohne dass irgendetwas Nennenswertes geschah, erst am dritten Tage stellte sich das unbekannte Paar zur selben Stunde plötzlich wieder ein. Simpson fokussierte umständlich, und in der Tat wurde seine Mühe reichlich belohnt, denn an diesem Nachmittag wurde er zum Zeugen einer Szene, wie er sie niemals zuvor in seinem Leben beobachtet hatte, einer Szene, die er selbst in seinen kühnsten Träumen nie und nimmer für möglich gehalten hätte. Denn das, was sich seinen schmalen, blassblauen Augen hinter dem kühlen Objektiv von der Höhe des Baluardo aus darbot, war kein Liebesakt im herkömmlichen Sinne, hatte nichts zu tun mit der routinierten Hingabe einer Frau an ihren heimlichen Geliebten, sondern es war ein Kampf. Ja, unter den ungläubigen Augen Reginald Simpsons verwandelte sich die stille Lichtung hoch über dem See innerhalb weniger Sekunden in ein blutiges Schlachtfeld. Und wie immer unerfahren er in Angelegenheiten dieser Art trotz seines fortgeschrittenen Alters auch sein mochte, diesmal begriff er sofort - und erschauderte. Er erschauderte nicht zuletzt auch vor sich selbst, denn als stiller Beobachter der Szene war er unvermittelt zum Mitwisser eines dunklen Geheimnisses geworden, von dessen Existenz er nichts geahnt hatte. Er schrak zurück und ließ sein Fernglas sinken. Sein Atem ging stockend, er wollte es nicht und wollte es doch wissen, er rieb sich die Augen, ja, er wollte es wirklich wissen, er nahm das Fernglas wieder auf und durch das gleichgültige Objektiv konnte er beobachten, wie zwei nackte Leiber sich einen ganzen Nachmittag lang verknäuelten, wie sie sich ein ums andere Mal mit roher Geste voneinander abstießen und sich mit der flachen Hand ins Gesicht schlugen. Er sah, wie weit aufgerissene Münder sich Schultern und Hände wund bissen, wie sie sich rasend küssten, einander am ganzen Körper leckten, sich an den Haaren rissen und am Ende auf solch schamlose Art und Weise ineinander eindrangen, dass Reginald Simpson am liebsten laut und vernehmlich Stop it über die blühenden Bäume hinweg ins Tal gerufen hätte. So brachte man Kinder zur Raison, so gebot man ungezogenem und übertrieben exaltiertem Spiel Einhalt, so stellte man die natürliche Ordnung der Dinge wieder her, nachdem man erkannt hatte, dass sie im Augenblick aus dem Gleichgewicht zu geraten drohte. Vage erinnerte er sich an die endlosen Nachmittage seiner Kindheit, an die weißen, hoch geschlossenen Spitzenkleider seiner Mutter, er erinnerte sich an all jenes, was er niemals hatte tun dürfen, an alles, was er niemals hatte denken dürfen und folglich niemals gedacht hatte, und mit einem Schlage wusste er mit der absoluten Sicherheit eines Somnambulen, dass man ihn betrogen hatte. Man hatte ihn hingehalten mit Teestunden und Hausmusikabenden, Krickett – und Federballspiel, mit Südfrüchten, Preisen und Jahrsbilanzen, und er hatte sich, ohne jemals auch nur den geringsten Widerstand zu leisten, hinhalten lassen. Das Allerunbegreiflichste erschien ihm in diesem Augenblick, dass er niemals auch nur darüber nachgedacht hatte, dass er sich niemals eine einzige Frage gestellt hatte und die ungeheuerliche Belanglosigkeit, die man ihm sein ganzes Lebens lang, höchst appetitlich angerichtet gleichwohl, auf silbernen Tabletts, in blütenweißen Kleidern und in wohl temperierten Wintergärten serviert hatte, gehorsam zu fressen bereit gewesen war. Er hatte sie gefressen wie ein Kannibale, ein Menschenfresser, der seinesgleichen ohne mit der Wimper zu zucken verschlingt, der sich selbst verschlingt, sich sodann den Mund sorgfältig mit einer pastellfarbenen Damastserviette abtupft und sodann zur Gastgeberin gewandt eine artige Floskel murmelt wie very good, indeed.
Reginald Simpson ließ sein Fernglas sinken, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, unwillkürlich schlossen sich seine Augen und seine Hände streckten sich Hilfe suchend einem Baum entgegen, der zufällig in seiner Nähe stand. Das schneidende enough! , mit dem seine Mutter noch jede ihr unliebsame Konversation ein und für alle Mal beendet hatte, gellte ihm in den Ohren, multiplizierte sich in Sekundenschnelle, um als tobendes Echo der Versagung in sein Körperinnerstes einzudringen, eine Verwünschung, die jeden einzelnen seiner Nervenstränge unwiderruflich zu zerrütten drohte. Ihm wurde schwarz vor Augen; er hörte seine Mutter hell und böse auflachen, da fiel es ihm wie Schuppen vor die Augen, da riss es ihn zu Boden. Er hörte noch den Aufprall seines schweren Körpers auf die nackte Erde; dass er zuvor sein Taschentuch hätte ausbreiten sollen, schoss ihm flüchtig durch den Kopf und dass es dafür wohl zu spät sei, dass er unweigerlich seine Kleider beschmutzen würde und dass es wohl für vieles zu spät sei.
Dann wurde es still auf dem Baluardo.
Reginald Simpson schwanden die Sinne, er verlor das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, war es bereits Abend geworden. Im allerersten Moment konnte er sich nicht daran erinnern, was vorgefallen war, erst nach und nach dämmerte es ihm. Er richtete sich langsam auf, und mit dem Rücken an jenen Baum gelehnt, an dem er in der allerletzten Sekunde vor dem Fall Halt gesucht hatte, versuchte er sich mit unruhig klopfendem Herzen der seltsamen Geschehnisse dieses Nachmittags zu vergewissern.
Ich bin ohnmächtig geworden, dachte er, das kann, wenngleich es mir niemals zuvor passiert ist, geschehen. Ich bin offenbar gestürzt und habe meine Kleider beschmutzt, nun, es wird wieder gut zu machen sein. Gewiss, man wird zu Hause auf mich warten, vielleicht, es mag sein, dass die Köchin sich gar ängstigen möchte um mich. Ich sah, das steht außer Frage, an diesem Nachmittag Ungeheuerliches, doch ungeheuerlicher noch will es mir scheinen, dass ich niemals zuvor etwas Ähnlichem ansichtig wurde, doch ich begreife, natürlich, meine Mutter hat mich beschützen wollen, sie hatte nichts Böses dabei im Sinn, oder doch, sie hat mich umbringen wollen, umbringen –
So ungefähr liefen seine Gedanken unruhig hin und her, stolperten ein ums andere Mal und fielen in tiefe Brunnen, aus denen sie sich mühselig wieder hoch arbeiten mussten, dann nickten sie für eine kleine Weise ein, rieben sich beim Aufwachen erstaunt die brennenden Augen und das aufgeregte Herz, erhoben sich wieder, rutschten aus, kamen aufs Neue ins Schlittern, schlugen lang hin und erhoben sich wieder, kletterten furchtlos auf die Spitze der allerhöchsten Zypresse und schauten zugleich von oben hinunter und von unten hinauf, die Fäden verwirrten sich, Reginalds Blick trübte sich, sein Herz raste, doch machte ihm seine Verwirrung längst keine Angst mehr. Bald hätte er um sich schlagen mögen, dann wieder musste er laut über sich lachen. Er dachte, dass die Köchin ihm eigentlich nicht einmal schlecht gefiel, dann kam ihm ein Mädchen in den Sinn, das er vielleicht – wer wusste das noch zu sagen? - geliebt hatte als er siebzehn Jahre alt gewesen war. Er dachte an die kleinen Huren in den feinen Bordellen Londons, an keines ihrer Gesichter konnte er sich erinnern, an keinen ihrer Namen. Er dachte an seine Mutter und daran, dass sie ihn hatte umbringen wollen und dass es ihr fast gelungen wäre. Er dachte, dass es nicht auszudenken gewesen wäre. Dann spürte er, wie die Stiche in der Nachbarschaft seines Herzens immer heftiger wurden, er spürte, wie weißlicher Schaum sich in seinen Mundwinkeln sammelte und wie ein durchsichtiger dünner Schleim ohne Unterlass aus seiner Nase troff. Seine Augen öffneten und schlossen sich in unregelmäßigen Intervallen. Bilder, grell und schamlos, rasten durch ihn hindurch wie es ihnen gerade gefiel. Dann ging der Mond auf über dem See, und er musste plötzlich an Sir William Blackworth denken, jenen großen Unbekannten, ohne dessen Hilfe er wohl niemals auf den Baluardo gelangt wäre; er spürte, wie ein Gefühl der Dankbarkeit in ihm aufstieg und die bedingungslose Hingabe an das Unabänderliche erfüllte ihn mit einer Zärtlichkeit, von der er nichts geahnt hatte, ja von der er nichts hatte ahnen können, denn er hatte ja bis vor kurzem gar nicht wirklich gelebt. Ein wildes Glücksgefühl, wie er es niemals zuvor verspürt hatte, durchströmte ihn. Es war das Wunderbarste, das Namenlose, das nicht Abildbbare, das Zauberwort, das die Menschen nicht aussprechen durften, es war der Schleier und das Geheimnis selbst, es war die Erfüllung, das Furchtbarste, so ganz und gar verschlungen zu werden. Kalter Schweiß stand ihm nun auf der Stirn, seine Zähne schlugen hart aufeinander, sein Puls raste, noch einmal öffnen sich seine Augen, hoch stand der volle Mond in seiner ganzen verführerischen Fülle über dem See, dann zog sich sein Brustkorb in heftigen Konvulsionen zusammen, es wurde eng und enger um ihn. Nein, es gab keinen Zweifel mehr, seine Mutter hatte ihn, ihr einziges Kind, wahr und wahrhaftig umbringen wollen, allein, es war ihr nicht gelungen. Er, Reginald Simpson, hatte ihre bösen Absichten am Ende durchschaut, er war von ganz alleine darauf gekommen, man hatte ihn hereinlegen wollen, aber er hatte es noch allen gezeigt, es war ihnen nicht gelungen ihn zu töten.
Er bekam jetzt kaum noch Luft, und es war ihm, als müsse sein Kopf zerspringen unter dem wilden Ansturm seines brechenden Herzens. Noch einmal versuchte er sich aufzurichten, noch einmal versuchte er ein kleines Lächeln, lovely, hörte er eine ihm unbekannte Stimme neben sich flüstern, more than lovely, dann fegte ein unmenschlicher Schmerz ihn gleichgültig hinweg; man fand ihn am nächsten Morgen.